Einblicke in die gelebte Praxis mit dem infans - Konzept
Interviewerin: Karin Ehinger-Dossow
Zertifizierte infans-Multiplikatorin
Ein Interview mit Sarah Witt
Leiterin der infans - Einrichtung "Kinder- und Familienzentrum Sprungbrett" in Trägerschaft der Stadt Freiburg im Breisgau
Welche Themen und Herausforderungen beschäftigen Euch aktuell als Team?
Ein Thema, mit dem wir uns auf den Ebenen Kinder, Eltern und Team seit etwa einem Jahr intensiv beschäftigen, ist „die Kita als Ort gelebter Demokratie“. Aufgrund politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen ist es uns ein großes Anliegen, unseren Zugang als eine der ersten Institutionen in denen Eltern und Kinder angebunden sind zu nutzen und so einen Teil zur Stabilisierung demokratischer Strukturen beizutragen. Besonders deutlich sichtbar wird dies in unserem „Elfenrat“ – ein demokratisch gewählter Kinderrat mit Vertreter:innen aus allen Altersgruppen. Dieser trifft Entscheidungen, kommuniziert sie an die anderen Kinder und verfügt auch über ein eigenes Budget. Auch in der Zusammenarbeit mit den Eltern ist es uns wichtig zu vermitteln, dass ihre Stimme wichtig ist und wir nur durch Beteiligung erreichen können, dass die Kita ein Ort ist, in dem alle sich wohl fühlen.
Im pädagogischen Alltag fordern uns vor allem Kinder heraus, die sich nicht an geltende Regeln halten und Grenzen überschreiten – auch körperliche Grenzen von Fachkräften. Als eine der Ursachen vermuten wir eine sehr starke Unsicherheit und Ambivalenzen im Erziehungsstil der Familien, wodurch die Kinder Schwierigkeiten haben, sich in Gemeinschaften zu integrieren und eigene Ansprüche zurückzunehmen. Auch in der Zusammenarbeit mit den Eltern kommt es dadurch zu Herausforderungen und erfordert immer wieder eine klare Positionierung, dass wir in unserer Gemeinschaftseinrichtung Verantwortung für alle tragen und dort, wo unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander treffen, Kompromisse gefunden werden müssen.
Welches sind aus Deiner Sicht aktuell die größten Herausforderungen in der Arbeit der einzelnen Fachkräfte?
Die Balance zu finden zwischen der Berücksichtigung der Individualität jedes einzelnen Kindes und dem Ziel, eine positiv erlebte Gemeinschaft zu bilden, fordert viel von den Fachkräften. Ein permanentes Abwägen: Wo gehe ich auf die Bedürfnisse eines Kindes ein? Wie kann ich allen Kindern gerecht werden? Wo fordere ich das Einhalten von Regeln konsequent ein? Wo kann ich den Rahmen so verändern, dass ich dem einzelnen Kind gerecht werde?
Außerdem erlebe ich Fachkräfte, die trotz der manchmal auch schwierigen Rahmenbedingungen ihren hohen pädagogischen Anspruch beibehalten möchten. Das kann einerseits zwar zu Überforderung führen – andererseits machen dann aber auch die gelungenen, pädagogisch anspruchsvoll gestalteten Momente zufrieden. Die Fachkräfte erleben sich selbst als wirksam und handlungsfähig. Auch hier gilt es immer wieder, eine Balance zu finden.
Welche Rolle spielt das infans-Konzept aktuell in Eurem pädagogischen Alltag?
Das infans-Konzept gibt uns in seiner Klarheit eine gute Orientierung und ist als Grundlage unserer pädagogischen Arbeit im Alltag präsent: Die Arbeit mit Bildungsbereichen, die sich in ihrer Gestaltung an den Interessen und Themen der Kinder orientieren, das systematische Beobachten der Kinder, die regelmäßigen und fest im Dienstplan verankerten Fachlichen Reflexionen in Kleingruppen, das Herausfinden von aktuell bevorzugten Tätigkeiten, das Beantworten von Themen in Form von Impulsen und gezielten Angeboten, die Dokumentation der Bildungs- und Entwicklungsschritte in den Portfolios der Kinder und das Zusammenführen aller Eindrücke in Form eines Individuellen Curriculums.
Welche Rolle spielt das infans-Konzept aktuell für Eure Zusammenarbeit im Team?
Das infans-Konzept (in Kombination mit „Gut aufgehoben“) bildet den roten Faden für uns im Team. Durch die strukturell verankerten Elemente findet regelmäßiger Austausch untereinander zu den Kindern und Familien statt und wir reflektieren stetig unser pädagogisches Handeln in den verschiedenen Kontexten.
Welche Rolle spielt das infans-Konzept in der Zusammenarbeit mit den Eltern?
Unsere Eltern werden in Form von Themen-Tischen an Elternabenden regelmäßig über unsere Schwerpunkte informiert. Hier gibt es auch die Möglichkeit, mehr Einblicke in das infans-Konzept zu erhalten. Ansonsten sind die Portfolios der Kinder, in denen sich die verschiedenen Instrumente befinden, Grundlage aller Entwicklungsgespräche. Um den Eltern einen möglichst guten Überblick über ihr Kind in der Einrichtung vermitteln zu können, ist es uns wichtig, dass die Entwicklung auch in Form von Fotos dargestellt ist.
Wie erleben Fachkräfte in der Einrichtung das infans-Konzept – als wichtige und tragfähige Grundlage oder als Last?
Ich denke, es ist beides: es wird insgesamt als wichtige und tragfähige Grundlage wahrgenommen, die unser pädagogisches Handeln leitet, es gibt aber auch Zeiten (bei personellen Engpässen oder in Zeiten mit anderen arbeitsintensiven Prozessen), in denen der wichtige rote Faden, der die einzelnen Instrumente zu einem sinnvollen Ganzen verbindet, nicht spürbar ist und es so zu einem „Abarbeiten von Bögen“ kommt – das wird dann eher als Last empfunden. Hier sehe ich uns als Leitungsteam in der Verantwortung, zeitlich befristete Prioritäten zu setzen und diese auch klar und transparent zu kommunizieren.
Wie unterstützt Euch die Umsetzung des infans-Konzepts /Gut aufgehoben in Eurer Arbeit?
Wie bereits beschrieben bildet das infans-Konzept die Grundlage, an der sich unsere Pädagogik orientiert und macht für uns die Qualität unserer Arbeit sicht- und spürbar.
Die Bögen aus „Gut aufgehoben“ nutzen wir zielgerichtet, um einzelne Themen, wie z.B. die Atmosphäre im Haus, über einen bestimmten Zeitraum intensiver zu betrachten, zu reflektieren und gegebenenfalls neu zu denken.
Wie würdest Du den Mehrwert des infans-Konzepts für Eure Einrichtung beschreiben?
Durch das infans-Konzept gelingt es uns, den Blick konsequent auf die Ressourcen der Kinder zu richten und durch das wiederkehrende Einnehmen der Meta-Perspektive und den Blick vieler unterschiedlicher Fachkräfte alle Facetten des einzelnen Kindes zu beleuchten. Wir handeln nicht vorrangig intuitiv, sondern werden durch die vorgegebene Arbeitsweise immer wieder zur Frage geführt „warum tun wir das, welches Ziel steht darüber?“
Welche Unterstützung könnt Ihr als Team anfordern, bzw. nutzen?
Als Einrichtung eines großen, kommunalen Trägers können wir auf unterschiedliche Unterstützungsformate zurückgreifen: Supervision, kollegiale Beratung, heilpädagogische Beratung durch den heilpädagogischen Fachdienst, Fachberaterin, Multiplikator*innen des infans-Konzept
Welche Bedeutung hat das infans-Konzept für Dich als Führungsinstrument?
Neben der Funktion eines Controlling-Instruments nutze ich das infans-Konzept zur Führung der Mitarbeitenden, indem auch die Mitarbeitergespräche von einem Wechsel aus konkreten Handlungsideen und der Metaebene geprägt sind.
Zusätzlich vereinbart jede Fachkraft vor einem stattfindenden Elterngespräch ein „Portfoliogespräch“ mit mir. Gemeinsam schauen wir uns das Portfolio des jeweiligen Kindes an und überlegen, was die Ziele für das bevorstehende Gespräch sind. So habe ich einen Überblick über alle Kinder und die roten Fäden und die Mitarbeitenden profitieren im Idealfall von einer weiteren Perspektive.
Welche Elemente des infans-Konzepts und/oder von „Gut aufgehoben“ werden aktuell in Eurer Einrichtung umgesetzt?
Wir nutzen aktuell alle infans-Instrumente, wobei wir in letzter Zeit mit wechselnden Schwerpunkten arbeiten – mal aus den infans-Instrumenten (z.B. Fokus auf bevorzugte Tätigkeiten oder Freunde), mal aus „Gut aufgehoben“ (z.B. Arbeitsblatt 8b).
Unser Ziel ist es, dass jedes Kind mindestens einmal jährlich eine ausführliche Themenbeantwortung und mindestens einmal während seiner Kita-Zeit ein IC erhält.
Wie werden in Eurer Einrichtung in Krisenzeiten die Arbeitsaufträge an die Situation angepasst?
Im Leitungsteam und in Absprache mit dem Gesamtteam (und ggf. dem Elternbeirat) priorisieren wir, was uns gerade am Wichtigsten erscheint. Hierbei versuchen wir, die verschiedenen Personengruppen (Kinder, Eltern, Team) im Blick zu haben und eine für alle stimmige Balance zu finden, indem wir auch die schönen Dinge (Events, Feste, Ausflüge) mit in die Priorisierung aufnehmen.
Beispielsweise gab es im vergangenen Jahr eine Phase von hohem Personalmangel durch Schwangerschaften, in der wir vorübergehend die Öffnungszeit um eine Stunde im Ganztagsbetrieb gekürzt haben, keine Beobachtungen und Fachlichen Reflexionen durchgeführt und die dadurch „gewonnene Zeit“ aufgeteilt haben: mehr Zeit bei den Kindern, um diese trotz Personalmangel gut zu begleiten; Vorbereitungszeit mit dem Schwerpunkt in der Portfolioarbeit auf umfassende bevorzugte Tätigkeiten und unaufwändige Events für die Familien und/oder das Team (z.B. ein gemeinsamer Grill-Nachmittag oder ein Ausflug). Diese Priorisierung war für alle Beteiligten transparent und somit nachvollziehbar und stimmig – gerade in herausfordernden Zeiten ist es uns wichtig, auch positive Momente miteinander zu teilen.
Was wäre Dir wichtig, interessierten Leitungen und Fachkräften zur Umsetzung des infans-Konzeptes / Gut aufgehoben mitzuteilen?
Das infans-Konzept erlebe ich als sehr gute – aber auch sehr anspruchsvolle – Grundlage der pädagogischen Arbeit, die auch gut zu unserem inklusiven Schwerpunkt passt. Es kann aus meiner Perspektive allerdings nur gelingen, wenn alle Fachkräfte mit großem Engagement mitziehen.
In Zeiten von Personal- beziehungsweise Fachkräftemangel kann es – möglicherweise auch für eine vorübergehende Zeit – sinnvoller sein, sich auf „Gut aufgehoben“ zu konzentrieren, um die Kinder (und alle anderen im System beteiligten Personen) weiterhin gut im Blick zu haben ohne das Team zu überfordern.